Der Wille versetzt die Berge – Sprache lernen ohne Wörterbuch

Haben Sie schon einmal versucht, eine Fremdsprache ohne jegliche Wörterbücher zu erlernen? Viele würden sagen, es sei doch unmöglich!
Zwei Schüler der Abendrealschule Rheine Hannibal und Tesfay haben das Unmögliche geschafft und stehen kurz vor dem Mittleren Schulabschluss.

Man stelle sich vor, Sie landen in einem fremden Land. Alles, was Sie haben ist ein Pass und ein Handy. Anderes Land, andere Schrift, andere Kultur und eine Sprache, für die es keine Wörterbücher gibt. Sie müssen schnell eine Ausbildung machen, davor aber einen Abschluss, das bedeutet Literatur im Original lesen, Aufsätze schreiben, Matheaufgaben lösen und das alles in drei Jahren.

So erging es zwei Schülern der Abendrealschule Rheine als sie 2014 aus Eritrea nach Deutschland geflohen sind. Hannibal und Tesfay heißen sie und haben etwas geschafft, was an ein Wunder grenzt: Deutsch zu lernen ohne Wörterbuch. Wie war es denn überhaupt möglich?
„Entscheidend ist der Wille, der kann die Berge versetzen“, sagt der 29-jährige Hannibal. „Am Anfang ging es nur mithilfe von Bildern, außerdem haben mir meine Englischkenntnisse aus der zehnten Klasse in meiner Heimat sehr geholfen“, fügt der junge Mann hinzu, der vor der Diktatur aus Eritrea geflohen ist.
Die Schüler aus Afrika haben es besonders schwer in Deutschland. Sie sprechen oft seltene Sprachen oder Dialekte, für die es keine Wörterbücher gibt. Für die Sprache Tigrinisch, die die beiden Jungs beherrschen, ist lediglich ein kleines Bildwörterbuch erschienen.
Das meiste Geld, das Hannibal damals hatte, wurde in den Privatunterricht in Deutsch investiert, wie er erzählt. Am Anfang ging es einigermaßen, dann kam aber die sprachliche Herausforderung in der Abendrealschule: Die Balladen oder Kurzgeschichten mit ihren sprachlichen Bildern, die Sachtexte und Schaubilder mit der komplizierten Fachsprache. „Ich habe alles gemacht, was nun möglich war, stundenlang im Internet recherchiert und andere Menschen um Hilfe gebeten“, berichtet Hannibal. „Wir haben sogar einen Bekanntenkreis aufgebaut und uns immer ausgetauscht, um einige Wörter überhaupt zu verstehen“, fügt er hinzu.
Sein beruflicher Traum war immer, Automechaniker zu werden. Aus gesundheitlichen Gründen musste er aber seine Pläne aufgeben. „Das Schicksal hat mir einen Streich gespielt und mich dazu gezwungen, einen besseren Abschluss zu machen, um in einem Büro arbeiten zu dürfen“, sagt Hannibal, der immer noch auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz im IT Bereich ist.

Sein Klassenkamerad Tesfay hat das Gleiche durchgemacht, um Deutsch zu lernen, nebenbei aber auch seine eigene Strategie entwickelt. „Ich habe mehrere Stunden am Tag die Serien auf Netflix geguckt, natürlich auf Deutsch, unter anderem alle Staffeln von Game of Thrones“, berichtet er. „Mein Traum ist es eigentlich, Musiker zu werden“, sagt der 24 jährige, der in der Freizeit leidenschaftlich Krar spielt – ein Zupfinstrument aus seiner Heimat.
Da man damit aber nicht seinen Lebensunterhalt verdienen kann, wird Tesfay ab August eine Ausbildungsstelle als Fachkraft für Metalltechnik beginnen. „Ich bin einfach glücklich, dass ich in einem Land leben kann, in dem Ruhe und Frieden herrschen, alles andere ist eine Nebensache“, sagt Tesfay lächelnd.
„Der Junge lächelt immer, er hat immer gute Laune und eine Portion positiver Energie für jeden“, sagt seine Klassenlehrerin Anette Mathy. Was sie an den beiden Jungs beeindruckt hat ist ihr Durchhaltevermögen. „Tesfay gibt nie auf, er kämpft bis zur letzten Sekunde mit einer Aufgabe, Hannibal ist sehr fleißig und sehr charmant – er weiß, wie man mit anderen spricht und was man tun muss, um das Ziel zu erreichen“, fügt Mathy hinzu.

Das wichtigste ihrer Meinung nach ist aber die Tatsache, dass die beiden in ihrer ganzen Schullaufbahn vielleicht insgesamt vier Stunden gefehlt haben. Das hat sie zu diesem Erfolg gebracht. „Hannibal hat außerdem nicht nur seine deutschen Freunde eingeholt, er hat sie überholt und hatte im letzten Schuljahr das beste Zeugnis von allen mit einem Durchschnitt im Einserbereich“, betont die Lehrerin.
Auf den Vorschlag, eines Tages ein Wörterbuch für Tigrinisch herauszugeben, reagiert Hannibal mit Lächeln und sagt „Mal sehen, wer weiß, was das Leben noch bringt?“.

Die Schüler mit Migrationsgeschichte haben in der Abendrealschule die Möglichkeit, zuerst in einem Vorkurs neben den anderen schulischen Fächern, die Grundlagen der deutschen Sprache zu erlernen, um dann in 2 Jahren den Mittleren Abschluss oder den Hauptschulabschluss anzustreben. Informationen und freie Schulplätze unter 05971 / 55124 oder unter www.abendrealschule-rheine.de

Text und Bilder dieser Seite: Wernonika Anger