Drei Generationen an einer Schule

Eine Familie aus der Ukraine lernt an der Abendrealschule Rheine

Das erste Mal in der Geschichte der Abendrealschule Rheine lernen Großmutter und Eltern mit ihrer Tochter gemeinsam Deutsch und mehr. Drei Generationen in zwei verschiedenen Klassen aber an einer Schule. Die 68-jährige Großmutter ist zugleich die älteste Schülerin an der Abendrealschule (ARS). Alle sind vor dem schrecklichen Krieg aus der Ukraine geflüchtet und haben hier ihr neues Zuhause gefunden.

Seit einem Jahr ist im Leben der ukrainischen Familie nichts mehr so, wie es vorher war. Die 68-jährige Tatiana Chursina, die in der kleinen Hafenstadt Skadowsk an der Grenze zur Halbinsel Krim wohnte, überlegte nicht lange.

Vier Wochen nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine hat sie entschieden, zu ihren Bekannten nach Rheine zu fliehen. „Da der Landweg Richtung Westen bereits unpassierbar war, reiste ich nach Georgien und von da mit dem Flugzeug nach Düsseldorf. Mitnehmen konnte ich nur das, was in ein Handgepäckkoffer reingepasst hat“, erzählt sie. Gleichzeitig machte sich ihre Tochter Viktoria Hordichuk mit ihrem Mann Evgenij und ihrer 17-jährigen Tochter Oryna auf den Weg nach Polen. Da sie in einer anderen Stadt wohnten, war die Flucht mit dem Auto noch möglich.

„Unsere Wohnung befindet sich direkt neben einem Raketenbaukonzern, also einem militärischen Ziel für eventuelle russische Angriffe“, sagt die 47-Jährige. „Jede Nacht gab es einen Bombenalarm, wir schliefen im Bunker. Das Kofferpacken habe ich jedoch ständig von einem auf den anderen Tag verschoben. Es war die schwierigste emotionale Entscheidung in meinem Leben“, erinnert sich Hordichuk. „Wir wollten nicht weg, wir hatten in der Ukraine alle ein glückliches Leben, schöne Wohnungen, gute Berufe, Oryna hatte ihre Sporterfolge.“, betont Viktoria.

Ihre Tochter, die gerade gleichzeitig die elfte Klasse online an einer ukrainischen Schule absolviert und an der Abendrealschule Rheine die deutsche Sprache erlernt und einen deutschen Schulabschluss anstrebt, ist die aktuelle Europameisterin im Luftturnen. Vier goldene Medaillen hat sie zuletzt im Dezember im estnischen Tallin gewonnen. Sie trainiert allein, arbeitet als Trainerin mit kleinen Kindern und hat, seit ihren neusten sportlichen Erfolgen, schon mehrere Arbeitsangebote in Deutschland und Österreich bekommen. In Rheine hat sie glücklicherweise einen Ort gefunden, an dem sie ihrer sportlichen Leidenschaft nachgehen kann.
„Mein größter Traum ist es, in die Ukraine zurückzukehren und in der Heimat meine Sportkarriere fortzusetzen“, sagt Oryna Kokoriev. „Dort ist diese Sportdisziplin populärer als hier, und es gibt mehrere Wettbewerbe im Jahr“, erklärt die 17-jährige.

Momentan aber ist die Schule am wichtigsten, und diese besucht sie zusammen mit ihren Eltern und der Oma. Natürlich nicht in einer Klasse. „Die erwachsenen Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine lernen in einem Vorkurs. „Viele haben auf der Flucht keine Dokumente über die beruflichen Qualifikationen mitgenommen“, erklärt Schulleiterin Christiane Beckmann-Veerkamp. „Bei uns an der Abendrealschule können sie einen Abschluss machen, um schnell in den Arbeitsmarkt integriert zu werden“, betont Beckmann-Veerkamp.

Die berufsschulpflichtigen Jugendlichen besuchen eine andere Klasse, in der sie auf gleichaltrige Klassenkameraden treffen, die aus Syrien oder Afghanistan fliehen mussten. „Nichtdestotrotz hatten wir aber so eine Situation noch nie in der Geschichte unserer Schule erlebt, dass eine ganze Familie mit drei Generationen bei uns gleichzeitig lernt“, fügt die Schulleiterin hinzu.

Die Seniorin Tatiana Chursina hat sich dabei einfach aus Spaß an der ARS angemeldet. Über 30 Jahre hat sie in der Ukraine als Ingenieurin in einer Halbleiterfabrik geschuftet. „Als Rentnerin muss ich nicht mehr arbeiten. Ich möchte reisen. Deutschland gefällt mir sehr, und ich lerne Deutsch, weil es mir Spaß macht“, sagt die 68-Jährige und fügt hinzu, dass sie bereits jeden Tag versucht, die örtliche Zeitung in Rheine zu lesen.

Ihre Tochter Viktoria hat dagegen die Hoffnung auf ein baldiges Ende des Krieges noch nicht verloren. Monat für Monat bezahlt sie immer noch die Miete für ihren eigenen Schönheitssalon in Dnipro und vermisst ihr Zuhause. „Wenn ich in Deutschland bleibe, möchte ich in meinem Beruf arbeiten“, sagt die 47-jährige Kosmetikerin. „Ich lebe aber momentan von einem Tag auf den anderen. Alles, was ich jetzt weiß: Ich muss Deutsch lernen“, betont Hordichuk.

Die Schulleiterin Christiane Beckmann-Veerkamp erklärt, dass die Abendrealschule Rheine eine Schule der zweiten Chance sei und für alle offen stehe. „Es ist egal, ob Sie jung oder älter sind, ob Sie einen deutschen Pass haben oder einen Migrationshintergrund, ob Sie nur einen Hauptschulabschluss haben möchten oder vielleicht Abitur machen wollen und eine Qualifikation beziehungsweise den Realschulabschluss benötigen“, zählt sie auf, „jeder zwischen 17 und 99 Jahren kann zu uns kommen, auch diejenigen, die noch kein Deutsch sprechen – wir geben Ihnen die Chance auf eine neue, bessere Zukunft“, verspricht sie. „Alles, was Sie tun müssen ist – sich anmelden und lernen.“

Text und Bild von Weronika Anger